Lüttich-Mailand-Lüttich 1954
2.400 km Non-Stopp mit dem V35-Gespann

(vom Typreferenten Manfred E. Sprenger)

Reglement
Folgendes Reglement (in Kurzform) gilt für diesen Wettbewerb. Start und Ziel ist Lüttich in Belgien, die Strecke führt „Non-Stopp” auf der detailliert im Bordbuch festgelegten Route quer durch Deutschland über die Alpen nach Mailand und auf fast gleicher Strecke zurück.
Eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 50 km/h ist für die gesamte, nicht abgesperrte Strecke vorgegeben, es müssen die örtlichen Verkehrsvorschriften eingehalten werden. Getankt werden darf nur an den Kontrollpunkten, sonst droht Punktabzug.
Die Startnummernvergabe wird ausgelost, Gespannbesatzungen dürfen sich auf dem Motorrad abwechseln, der Beifahrer muss mindestens 60 kg schwer sein, sonst muss das fehlende Gewicht durch plombierten Ballast ausgeglichen werden. Motor und Getriebe werden von den Veranstaltungs-Kommissaren ebenfalls verplombt, der Wechsel des Fahrzeuges bedeutet Ausschluß. Für jede Minute zu späten Durchfahrens einer Zeitkontrolle werden 60 Strafpunkte erteilt.
Nenngeld für Solomotorräder sind 1000 Francs und für Gespanne 1500 Francs. Als Siegerprämie locken jeweils 10.000 Franc in den Soloklassen und 12.000 Franc in der Gespannklasse. Die Victoria-Werksmannschaft wird mit fünf Motorrädern gemeldet: Startnummer. 66, Rudi Ebert/Herbert Tegge, V 35 -Gespann , Startnummer. 26, Mayer, V 35 solo, Startnummer. 40, Müller-Hauenstein, V 35-Gespann, Startnummer. 74, Oelerich, V 35 solo. Der Goppert „Schorsch“ ist mit der Startnummer 18 als einziger KR 26-Aero-Fahrer dabei.

Am Start

69 Fahrer aus 10 Nationen stehen am Start, 58 Solomaschinen und 11 Gespanne wollen sich diesem Wettbewerb stellen, sind bereit die Strapazen auf sich zu nehmen.
Gestartet wird in der Reihenfolge der Startnummern in Dreiergruppen mit drei Minuten Abstand. Um 16.03 Uhr wird das Gespann Ebert/Tegge in der Rue Sauveniére auf die Strecke geschickt. Rudi fährt vom Start weg aufs Ganze. Es wird herausgeholt was die Bergmeister an Leistung hergibt. Alles läuft nach Plan und die V 35 rennt wie ein Uhrwerk. Ein Fahrerwechsel ist nicht eingeplant, Rudi Ebert will über die komplette Distanz das Gespann pilotieren.
Auch in der Nacht gibt es keine Probleme. Die in einem Batteriekasten außen am Seitenwagen vorsorglich mitgenommene Ersatzbatterie als Spannungsquelle für eine ausgefallene Lima wird nicht gebraucht. Als der Morgen dämmert wird der  Streckenabschnitt zwischen Ulm und Kempten passiert.

Zwischen den beiden Fotos liegen 2400 Kilometer und über 48 Stunden Fahrtzeit.
Erschöpft aber glücklich über den Sieg in der Gespannklasse schauen Ebert und Tegge in die Kamera.

Nach dem Grenzübergang bei Füssen gelten andere Bestimmungen. Die österreichische Regierung erteilte während der Monate Juli/August keine Genehmigung für die Durchfahrt von Sportveranstaltungen. Für die 153 km zwischen Füssen, dem letzten deutschen und dem ersten italienischen Kontrollpunkt in Vipiteno wird die Zeit neutralisiert. Jedem Teilnehmer stehen für diesen Streckenabschnitt 2 Stunden 15 Minuten zur Verfügung.
Es wird besonders darauf hingewiesen, daß in Österreich die Verkehrbeschilderung genau zu befolgen sind, Man kann davon ausgehen, dass die österreichischen Polizeibeamten sich den Termin der Veranstaltung im Terminkalender notiert haben.

Für das Gespann Ebert/Tegge läuft die Fahrt weiter hervorragend, Brennerpass, Jaufenpass, Stilfser Joch. Als der Gaviapass erreicht wird sperrt plötzlich ein Karabinieri die Straße ab. Vollsperrung wegen Unfall! Zwei Motorradfahrer sind auf der nassen Straßenoberfläche aus gewachsenem Fels ins Rutschen gekommen und einen Abhang hinuntergestürzt. Die Fahrer sind schon über 21 Stunden, nur unterbrochen durch die Tankpausen unterwegs, das zehrt an der Kondition und die Konzentration lässt nach. Die Alpenpässen verzeihen keinen Fahrfehler, wer von der Strecke abkommt stürzt unweigerlich in den Abgrund.

Einige Fahrer haben den Gaviapass schon überquert, alle Folgenden verharren hier bis die Sperrung aufgehoben wird. Umkehren ist zwecklos eine Alternativstrecke kommt nicht in Frage, die offizielle Streckenführung muss eingehalten werden. Also abwarten, einige Fahrer verlieren die Nerven und denken an aufgeben.

Rudi Ebert lässt sich vorsichtshalber von einem Karabinieri die fast zwei Stunden Zwangsunterbrechung schriftlich bestätigen, falls es bei der Zeitauswertung zu Unstimmigkeiten kommt und startet in dem Moment als die Strecke freigegeben wird.

Die 180 Kilometer bis Mailand werden im Eiltempo abgespult. Der herausgefahrene Zeitvorsprung ist jetzt weggeschmolzen aber bis Mailand ist die Sollzeit wieder im grünen Bereich. Auf der Via Montefeltro ist Halbzeit. Die Betreuermannschaft vom Victoria-Werk wartet schon auf die Fahrer. Die Lauffläche des Hinterradreifen hat massiv abgenommen. 1200-Gespann-Kilometer mit Alpenpässen, die meistens in Ebert-Manier, das bedeutet im Drift genommen werden, haben dem Reifen arg zugesetzt. Da laut Reglement das Montieren von neuen Reifen verboten ist, wird das Hinterrad mit dem Seitenwagenrad getauscht, bei der V 35 kein Problem, alle Räder sind untereinander austauschbar.
Um 16.09 Uhr geht es wieder auf die Strecke. An Monza vorbei in Richtung Comer See nach Bormio, dort trifft man wieder auf die gleiche Streckenführung wie bei der Herfahrt. Als der Anstieg in die Alpen beginnt wird es zu dämmern, die zweite Nacht bricht an. Der Rollsplitt-Fahrbahnbelag ist bei Dunkelheit ein zusätzliches Risiko. Rudi Ebert hat nur noch das 1000 ccm- Ariel- Gespann der Engländer Wraith / Breland vor sich und setzt alles daran sich an die Spitze der Gespannwertung zu setzen. Noch bevor der letzte Pass überquer wird geht die Rechnung auf und das Gespann Ebert/Tegge setzt sich an die Spitze. Unglaublich was die 350ccm-Maschine selbst unter diesen Extrembedingungen zu leisten im Stande ist.
In Ulm am Kontrollpunkt in der Memminger Straße 65 angekommen sind die Knochen steif von der Nachtkälte. Dann auf dem Autobahnabschnitt von Ulm nach  Karlsruhe steigt die Sonne endlich wieder über den Horizont.
Jetzt noch die letzten 550 Kilometer durchhalten, keinen Fehler machen, auf die Zähne beißen, die Bergmeister brummt immer noch wie ein Uhrwerk. Kaiserslautern, Idar-Oberstein, Trier, alle Punkte kennt man noch von der Herfahrt, es läuft wie am Schnürchen. Die Eifel wird im Eiltempo genommen, da kommt endlich der Stadtrand von Lüttich in Sicht. Für die Fahrer naht die Erlösung von den Strapazen der Fahrt. Unvorstellbare 48 Stunden sind die Fahrer unterwegs, ohne Schlaf, ohne größere Pausen, ausgelaugt, kaputt, erschöpft steigt man in einer begeisterten Menschenmenge in der Rue Sauveniére vom Motorrad.

Pennzoil war 1954 in der Werbung (siehe oben und unten) rund um die Veranstaltung stark präsent.
Das ist auch 2002 so, der niederländische Pennzoil Vertrieb unterstützt die Revival- Fahrt mit Öl-Sponsoring.


Der Einsatz hat sich gelohnt

Nach der Ankunft werden die Fahrzeuge noch einer „Zustandsprüfung” unterzogen. Es gibt Strafpunkte für nicht funktionierende Lampenbirnen und die Hupe, außerdem muss der Motor  zur Probe innerhalb von 60 Sekunden gestartet werden.
Noch am gleichen Abend werden die Sieger bekanntgegeben nachdem die Zeiten der Bordbücher von den Veranstaltungskommissaren ausgewertet wurden.
Der enorme Einsatz hat sich gelohnt, das Gespann Ebert/Tegge hat den Sieg in der Gespannklasse (ohne Hubraumbegrenzung) geholt!

Aber noch zwei weitere Motorräder schaffen gute Plazierungen, für die zweite V35-Gespannbesatzung Müller-Hauenstein ist noch der 4.Platz drin und in der Soloklasse bis 250 ccm schafft Georg Goppert den 14 Platz. Wie Mayer und Oelerich die Fahrt beenden läßt sich heute leider nicht mehr nachvollziehen.
In den Jahren 1955 und 1956 nimmt Victoria wieder an diesem Langstreckenwettbewerb teil aber die Plazierung von 1954 ist nicht mehr reproduzierbar. Es bleibt „der“ V 35-Erfolg auf einer „Langstrecke“ überhaupt!