2002:
Für die Einen ist es Lüttich-Mailand-Lüttich,
für die Anderen die längste Probefahrt der Welt

(vom Typreferenten Manfred E. Sprenger)

Victoria Treffen 2002, Rudi Ebert beim “Benzin” reden:
Oben beim Interview für ein lokales Fernsehmagazin,
unten beim Fachsimpeln mit Len Thesing.

Kurze Rückblende zum Victoria-Jahrestreffen 1999 in Waischenfeld/Seelig, Fränkische Schweiz. Tolles Sommerwetter, viel Adrenalin in den Köpfen der Teilnehmer durch die Menge an Nürnberger Zweiradmaterial. Spät am Tag wird das Adrenalin durch fränkische Bierspezialitäten ersetzt, was die Hochstimmung insgesamt noch verstärkt. Auf dem Gelände springt ein erstaunlich drahtig wirkender älterer Herr von einer mit V-Motor bestückten Victoria zur nächsten. Dass der Mann fix redet und dabei sein Wissen um die deutsche V-Konstruktion den Umstehenden gleich Kübelweise übergießt, lässt vermuten, dass hier eine geballte Ladung Fachwissen abgespeichert ist, die nach jahrelanger Abstinenz wieder aus dem Tiefen des Unterbewusstseins hervorgeholt wird . Die Bergmeister-Fahrer kennen ihn alle, Rudi Ebert ist ihr Held, denn Rudi hat früher Rennen mit der Bergmeister gewonnen. Rudi war Werksfahrer bei Victoria und hat für Wettbewerbe präparierte Bergmeister-Gespanne durch die Lande gescheucht wie der Teufel. Das der Mann nicht nur mit dem Mundwerk schnell war hat jeder gleich kapiert, der Rudis Erfolgsliste überfolgen hat. 10 Klassensiege, 31 Gold-, 10 Silber- und 8 Bronzemedaillen waren seine Ausbeute in fünf Jahren als Victoria-Werksfahrer. Ob Österreichische Alpenfahrt, Großer Preis von Monaco (damals auch für Motorräder), Deutschlandfahrt, Sixdays, Schwere Schwäbische, Rudi war dabei ­ und immer vorne dabei. Einer seiner größten Erfolge war der Sieg in der Gespannklasse bei der Fernfahrtmeisterschaft, die jährlich von der belgischen Royal Motor Union veranstaltet wurde. 1954 gelang es ihm mit seinem Schmiermaxen Herbert Tegge in unglaublichen 48 Stunden die 2400 Non-Stop-Kilometer von Lüttich nach Mailand und retour abzuspulen. 26 Kontrollpunkte mussten angefahren werden, Fernpass, Brenner, Jaufenpass, Stilfser Joch und Gavia Pass galt es zu überqueren, und dabei so hochkalibrige Gespannbesatzungen wie Kritter/Swoboda mit der Zündapp KS 601 und die Engländer Wraith/Breland mit ihrer 1000 ccm Ariel Square- Four abzuhängen.

Ebert/Tegge haben das Unvorstellbare geschafft, mit einem 350er-Victoria-Bergmeister-Gespann schlagen sie die hubraummäßig überlegene Konkurrenz und schaffen den Klassensieg. Als Schmankerl für die schmachtende Bergmeister-Klientel beim Jahrestreffen 1999 hat Rudi sein Roadbook von "Lüttich-Mailand-Lüttich" mitgebracht, und der am weitesten angereiste Bergmeister-Fahrer soll bei der traditionellen Pokalvergabe am Abend die legendären Reifen-Montiereisen bekommen, die Rudi bei dieser Siegesfahrt im Bordwerkzeug begleitet haben.
Ab diesem Zeitpunkt läuft alles wie von unsichtbarer Hand geplant. Len Thesing aus Zaandam/Holland bekommt von Rudi Ebert persönlich den Spezialpreis überreicht und einige Stunden später, drei Bergmeister-Verrückte haben zwei Reifen-Montiereisen vor sich auf dem Tisch liegen, hecken sie einen Plan aus der langfristig für Beschäftigung sorgen soll."Das wär' doch was, Lüttich-Mailand-Lüttich als Neuauflage mit drei V 35-Bergmeister,sozusagen als Hommage an Rudi Ebert und an die Siegesgöttin Victoria". Und weil die Drei keine Sprücheklopfer sind, sondern Männer der Tat, sollen Taten folgen und zwar bald. Zuvor müssen Peter Keller, Manfred Sprenger und Len Thesing noch einige Hürden nehmen, denn was noch fehlt sind die Hauptdarsteller: drei langstreckenpräparierte Bergmeister-Motorräder, und die sollen speziell für diese Tour aufgebaut werden. Eigentlich kein Problem, ist doch Manfred Sprenger Typreferent der Victoria- IG für die V35 (siehe Oldtimer Praxis 5/1998). Er kennt alle Spezifikationen und kann auf ein gut sortiertes Teilelager zurückgreifen. Das Problem besteht einzig in den Rahmenbedingungen, Peter Keller muss noch sein Maschinenbau-Studium abschließen und Len Thesing eine funktionsfähige Werkstatt einrichten. Zwei Jahre brodelt es in den Köpfen der dreien, währenddessen auch klar wird, dass zu einem semi-professionellen Team auch ein Service-Bus gehört. Dieser Bus braucht einen Fahrer und der findet sich in der Person von Uwe Habersetzer aus der 250er-Aero-Fraktion der Victorianer.

Geschafft! Vier Victorias stehen mit authentischen LML- Startnummern auf dem Victoria-Treffen 2002 in Haide:
Peter Kellers “capri”-farbene V35 (59),
Manfred Sprengers V35-Geländesport in “Azur” (66) und
Len Thesings V35 Halbsport in Schwarz, sehr edel zusammen mit den Leichtmetallfelgen (74)
Leider verdeckt ist Uwe Habersetzers “capri”-farbene KR 26 Aero, sie soll der einzige Zweitakter auf der Tour sein.

Mittlerweile steht der Termin für den Start in Lüttich fest: Samstag, 3. August 2002. Im Juni diesen Jahres, die Thesing- und die Sprenger-Bergmeister haben schon einige Testkilometer abgepult, liegt in einer Garage in Oerlinghausen immer noch ein Haufen frisch überholter Bergmeister-Teile, die auf die Endmontage wartet. Hier schraubt Peter Keller sich nächtelang durch sein "Rennen vor dem Rennen", immer
gepeinigt von einem Gedanken: Was ist, wenn irgend etwas schief geht und den knappen Zeitplan platzen lässt? Vorsorglich bereitet Uwe Habersetzer seine KR 26 für die Langstrecke vor, denn drei Victorias sollen unbedingt mit von der Partie sein. Acht Wochen später, Victoria-Jahrestreffen in Helmbrechts, alles in Butter: Vier Victorias stehen mit Startnummernschildern versehen neben dem Servicebus und werden von fachkundigem Publikum inspiziert. Rudi Ebert, der Gespann-Sieger von 1954 hält Autogrammstunde und gibt den L-M-L-Aspiranten letzte Tipps für die Tour, die soweit wie möglich auf authentischer Strecke gefahren werden soll.

Klar, dass die Lackierungen der Bergmeister-Maschinen und die Startnummern keine Fantasieprodukte sind sondern den Startnummern damaliger Teilnehmer entlehnt wurden. Die 66 hatte das Gespann Ebert/Tegge und weil Rudi Ebert sein Original von 1954 der Sprengerschen Victoria-Sammlung vermacht hat, sollte diese Zahl auf der Sprenger-V35 verwendet werden. Diese V35 ist auch als einzige mit den originalen Zweivergaser-Zylinderköpfen ausgerüstet, die nur an den Wettbewerbsmaschinen der Werksfahrer zum Einsatz kamen. Nur sieben Paar dieser Raritäten sind heute noch bekannt. Im übrigen basiert die in der V 35-Farbvariante "Azur" lackierten Sprenger-V35 auf einer vom Werk für Geländesportwettbewerbe präparierten Maschine. Lediglich auf die Geländereifen wurde verzichtet und dafür auf adäquate Straßenpneus umgerüstet. Die Nummer 74 fuhr Harald Oelerich, damals noch nicht mit dem von ihm später gebauten V35-Schwingenfahrwerk, aber mit den Zweivergaser-Zylinderköpfen, diese Nummer sollte Len Thesing haben. Die Thesing V-35, schwarz lackiert mit Aluzierstreifen auf den
Kotflügeln und mit der hochgelegten Auspuffanlage im Stil der Oelerich-Schwingen-V35 wurde ebenso wie die Keller-V35 mit auf Zwei-Vergaserflansch umgebauten Originalzylinderköpfen umgerüstet. Die 59 fällt zwar etwas aus dem Rahmen, weil sie von einem Horex- Fahrer besetzt wurde, aber Peter Keller bestand darauf, hieß doch der damalige Teilnehmer auch Keller, und der Name verpflichtet schließlich. Die Keller- V 35 entspricht, bis auf den 2-Vergaser-Umbau, in der Capri- Lackierung und allen anderen Details einer serienmäßigen V 35. Weil Uwe Habersetzer seine KR 26 als Reservemaschine fit gemacht hat sollte er auch zum Einsatz kommen. Die Startnummer 18 hatte der Werksfahrer Georg Goppert auf seiner KR 26, mit der er einen beachtlichen 14 Platz in der Solo-Klasse bis 350 ccm erzielte. Als neu gewonnener Fahrer für den Service-Bus sollte Heiner Tiedemann agieren.

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Die Tour im Überblick:

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